Die AG Evolutionsbiologie spart nicht mit harter Kritik an allen, die eine evolutionäre Gesamtsicht
der Organismenwelt nicht teilen. Ein Beispiel dafür ist der Aufsatz "Affäre Max Planck - und kein Ende?"1 auf deren Website www.evolutionsbiologen.de. Dieser Text stellt eine breit angelegte Kritik an den Ausführungen des Evolutionskritikers und ID-Befürworters Wolf-Ekkehard
LÖNNIG dar. M. NEUKAMM ist Autor dieses Textes und A.
BEYER wichtiger Mitwirkender, sie sprechen im "Namen des Vorstandes der AG Evolutionsbiologie" - der Artikel ist somit "offiziell" abgesegnet.
Dort findet sich auch ein Kapitel mit dem Namen "Ernst Haeckel und das
Leitbild der ontogenetischen Rekapitulation", welches ich
hier kurz kommentieren möchte – als an der Sache (Rekapitulationen)
Interessierter2, aber besonders als Person, die sich für die Technik der AG Evolutionsbiologie im Umgang mit Evolutionskritikern interessiert. Dies ist ein Fallbeispiel, in
dem sich beide Punkte gut vereinen lassen.
Ich werde das Kapitel Stück für Stück kommentieren und gebe
Hinweise, falls Passagen ausgelassen werden. Die Auszüge
aus der Kritik der AG Evolutionsbiologie sind grün gehalten.
1) "In ähnlich einseitiger Form widmet sich Lönnig der kritischen
Betrachtung der Person Ernst Haeckel sowie des auf ihn zurückgehenden Leitbildes von der auszugsweisen und schnellen
Rekapitulation stammesgeschichtlicher Stadien in der Keimesentwicklung
(Ontogenese)."
Inwiefern LÖNNIGs Ausführungen in einem Artikel3 der übrigens den Fokus auf Johann Gregor MENDEL und seine Arbeit bzw.
deren Werdegang legt, "einseitig" sind, erfährt
der Leser hier zwar nicht, aber die Formulierung erzeugt trotzdem
eine Stimmung, welche bestimmt nicht im Interesse der kritisierten
Person ist.
Ob "auszugsweise" und "schnelle" Rekapitulation ein "Leitbild" darstellt, ist eine Frage, die noch öfter auftauchen wird. Unter
einem "Leitbild" verstehe ich etwas, dem man folgt,
einen Rahmen, in dem man etwas durchführt, Parameter, nach
denen man sich richten kann. Der Brockhaus (Bd.27, 1995) definiert
ein Leitbild als "Leitende Vorstellung oder deren Verkörperung".
2) "So ist auf einer seiner Internetseiten ...vom "Sturz Haeckels" und
dessen angeblich gefälschten Abbildungen in seinen "Embryonentafeln" die
Rede,"
Es ist nützlich zu wissen, dass LÖNNIG nicht vom "Sturz Haeckels" gesprochen hat, sondern der von ihm angeführte Autor H. C. JÜNGST,
ein enttäuschter Anhänger HAECKELs, in dessen Augen
dieser stürzte. Und was "angeblich gefälschte
Abbildungen" in HAECKELs Embryonentafeln betrifft, ist in
LÖNNIGs Arbeit lediglich der wertungsfreie Verweis auf weiterführende
Literatur zu finden. Die Formulierung "die Rede" ist
also insofern irreführend, als die genannten Punkte von
LÖNNIG dort nicht einmal kommentiert werden. HAECKEL und
sein "Biogenetisches Grundgesetz" werden in einem anderen
Kontext aber durchaus thematisiert, nämlich wenn es um die
Untersuchung der Auswirkungen dieses Ansatzes auf die biologische
Forschung geht. Das wiederum fügt sich gut in den Gesamtkontext
einer Arbeit, die sich mit den Auswirkungen darwinistischer Ansätze
auf die Biologie zur Zeit der Debatten um MENDELs Forschungen
beschäftigt. Bei den folgenden Ausführungen sollte
beachtet werden, dass von Seiten der AG Evolutionsbiologie nicht ein Artikel oder auch nur ein ausführlicher Absatz über die
Fälschungsvorwürfe gegen HAECKEL kritisiert wird, sondern
allem Anschein nach folgender Hinweis: Jüngst: DER STURZ HAECKELS (1910; siehe im World Wide Web unter Kurt Stüber), R. Gursch (1981) sowie E. Pennisi: HAECKEL'S EMBRYOS: FRAUD REDISCOVERED
(1997 über eine Arbeit mit einer Photodokumentation von
Embryonen in Kontrast zu Haeckels Abbildungen von M. Richardson
1997).
Kontext des Zitats: HAECKEL hatte andersdenkende Menschen als Fälscher
bezeichnet, was in LÖNNIG's Artikel kurz angeschnitten wird.
Selbstverständlich ist es in diesem Zusammenhang informativ
zu wissen, dass HAECKEL selbst begründet mit diesem Vorwurf
konfrontiert werden kann. Genau diesen Hinweis geben LÖNNIG's
Literaturstellen an dieser Stelle.
3) "...so daß der unbedarfte Leser unwillkürlich zu der Einschätzung
gelangen muß, als handele es sich bei der Rekapitulationsregel
um eine völlig überholte Vorstellung."
Es wird ein Leser postuliert, der zu erstaunlichen Schlüssen kommt. Und
auffällig ist, dass hier von der Rekapitulationsregel gesprochen wird, inLÖNNIGs Arbeit jedoch nur vom "Biogenetischen Grundgesetz" (im
Kontext einer biologiehistorischen Arbeit). Wichtig ist hier,
dass LÖNNIG keine Brücke vom "Sturz Haeckels" und "gefälschten Abbildungen" zum
Stellenwert von HAECKELs Gesetzesformulierungen baut. Das wurde
offenbar in LÖNNIGs Arbeit einfach hineingelegt. Dafür spricht auch eine Aussage LÖNNIGs, in der er zwischen der
Kritik an HAECKEL als Person einerseits und der Kritik an der
Sache selbst unterscheidet:
"Nur darf man nicht den Fehler machen, mit einer berechtigten Kritik zu
einer zweifelhaften Methode und/oder den Fehlern eines einzelnen
Forschers auch gleich die "ganze Sache" über Bord
zu werfen, denn diese hätte sich ja unabhängig von
den Haeckelschen Darstellungen und Methoden als richtig erweisen
können."
Der "unbedarfte Leser" wird also auf LÖNNIGs Seiten genau vor
dem Trugschluss gewarnt, der gemäß der AG Evolutionsbiologie
aus seinen Ausführungen hervorgehen soll. Zwar findet sich
diese Klarstellung in dem Artikel "Antwort an meine Kritiker"4 (Fußnoten) und nicht in der von der AG Evolutionsbiologie in Bezug auf
HAECKEL herangezogenen Arbeit von LÖNNIG, womit man argumentieren
kann, dass die Autoren der AG Evolutionsbiologie diese relevante
Aussage einfach übersehen haben. Problematisch ist dabei
jedoch, dass man von den Urhebern einer umfassenden Kritik an
LÖNNIG mindestens erwarten kann, dass diese gerade eine
Arbeit, in der er seinen Kritikern antwortet (!), besonders genau
lesen. In diesem Fall hätte ihnen dieser Punkt bewusst sein
sollen.
4) "Interessanterweise endet der "Zeithorizont" der von Lönnig
zitierten Literatur abrupt im Jahre 1997; so weist er hauptsächlich
auf Richardsens Kritik an den Embryonentafeln sowie auf einen
Leitartikel von Penisi [SIC] hin."
Wenn man "interessanterweise" durch "verständlicherweise" ersetzt,
bekommt man eine Formulierung, die zwar keine negative Kritik
gegen LÖNNIG darstellt, aber dafür zum Kontext passt.
Wie unter 2) bereits dargelegt wurde: LÖNNIG gibt die Literaturstellen,
die sich um die Fälschungsvorwürfe gegen HAECKEL drehen, im Zusammenhang mit dessen Vorwürfen der Fälschung gegen andere
Menschen an und ohne dieses Thema der Fälschungen weiter
aufzurollen. Hätte LÖNNIG in seiner Arbeit natürlich
explizit die Fälschungsvorwürfe gegen HAECKEL thematisiert,
wäre es verwunderlich, warum der Aufsatz nicht auch neuere
Literatur dazu angibt. In einer persönlichen E-Mail (Dienstag,
26.04.05) gab mir Wolf-Ekkehard LÖNNIG dazu noch folgenden
Hinweis:
"Nicht unwichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch, das ich nach
meiner Erinnerung - ich müsste noch mal nachsehen - dieses
Kapitel Ende 1997, Anfang 1998 geschrieben habe. Die weitere
Diskussion folgte demnach erst nach Abschluss des Kapitels, das
natürlich sowieso nicht beabsichtigte, einen vollständigerschöpfenden Überblick über
diese Frage zu geben."
5) "Was nur die wenigsten Leser wissen können, ist die Tatsache, daß sich
mit Blick auf die kreationistische Vereinnahmung dieser beiden
Artikel eine rege Diskussion in der Fachwelt entsponn, die im
Jahre 1998 begann und bis heute nachhallt und eine Welle von
Richtigstellungen nach sich zog, die Lönnig völlig
unterschlägt."
Die so genannte "kreationistische Vereinnahmung" der Arbeiten von
PENNISI (1997) und RICHARDSON et al. (1997) ist für LÖNNIGs Text nach dem Gesagten irrelevant. Der Vorwurf
der Unterschlagung ist daher konstruiert.
Und was wurde überhaupt "richtiggestellt" - wurden etwa die Arbeiten
von PENNISI und RICHARDSON et al. in der Fachwelt entkräftet, sodass LÖNNIG seinen Literaturverweis
entsprechend hätte ändern müssen? Dem ist nach
meinen Informationen nicht so. Die "Richtigstellungen" betrafen
die angebliche"kreationistische Vereinnahmung"; mit
LÖNNIGs Arbeit hat das aber nichts zu tun.
Die Punkte 2) - 4) sind schon in die Richtung gelaufen und hier passiert das,
was in vielen Debatten auf vielen Gebieten passiert: Der Strohmann
ist fertig gebaut, nun wird seine mangelnde Resistenz gegen Feuer
unter Beweis gestellt. So könnte man jedenfalls den Sachverhalt
pointiert beschreiben, wenn jemand für etwas vernichtend
kritisiert wird, das er gar nicht gesagt hat oder nicht vertritt
(zumindest nicht in der kritisierten Form).
6) "Obschon Haeckels Umgang mit gewissen embryologischen Daten Anlaß zur
Rüge gab, mußten seine Kritiker ihm im Grundsätzlichen
recht geben." (Anm.: Hier folgt im Text der AG Evolutionsbiologie ein langes Zitat von RICHARDSON et al. (1998), welches ich hier auslasse)
Diesen "Anlass zur Rüge" kann man durchaus etwas drastischer
formulieren, oder wie RICHARDSON (1998) geschrieben hat:
"Nonetheless, the core scientific issue remains unchanged: Haeckel's drawings
of 1874 are substantially fabricated. In support of this view,
I note that his oldest "fish" image is made up of bits
and pieces from different animals – some of them mythical. It
is not unreasonable to characterize this as "faking".
Later editions of Haeckel's drawings were somewhat more accurate,
and showed significant variations among embryos of different
species. Sadly, it is the discredited 1874 drawings that are
used in so many British and American biology textbooks today." (S.1289)
RICHARDSON kommt also zu dem Schluss, dass es nicht unplausibel ist HAECKELs
Vorgehensweise mit Fälschung in Zusammenhang zu bringen.
Und sehr interessant ist der Zusammenhang, in dem RICHARDSON
dies tut: Nachdem er in den Sätzen vorher seine Besorgnis darüber zum Ausdruck brachte,
möglicherweise Kreationisten Munition geliefert zu haben
und die Debatte um HAECKEL, bzw. die Fälschungsvorwürfe
gegen ihn, bereits ein breites Publikum erreicht hatte. Diese
Entwicklungen hinderten ihn also nicht daran HAECKELs Vorgehensweise
weiterhin zu kritisieren.
Das wäre doch eine Information gewesen, die die Leser der Kritik an LÖNNIG
sicher interessiert hätten. Besonders da in der Kritik der AG Evolutionsbiologie der Zeithorizont von 1997 überschritten wird und sie sehr gut in den thematischen
Kontext von deren Ausführungen gepasst hätte.
Spannend ist auch die Frage, wo HAECKELs Kritiker diesem "im Grundsätzlichen" recht
geben mussten, oder: Wie Grundsätzlich darf Grundsätzliches
sein, um noch spezifisch genug zu sein? Die in der LÖNNIG-Kritik
zitierte Arbeit von RICHARDSON et al. (1998) ist primär eine Betonung, dass deren Arbeit (RICHARDSON et al. 1997) das Konzept Darwinscher Evolution nicht schwächt. Sie betonen dabei die Gemeinsamkeiten in der Embryonalentwicklung
aller Wirbeltiere und geben HAECKEL insofern recht, als dieser
ebenfalls darauf aufmerksam gemacht hat. Sie interpretieren diese Ähnlichkeiten als Belege für einen gemeinsamen evolutionären Ursprung. Wenn das das "Grundsätzliche" ist, dann ist das ausgesprochen unspezifisch
für HAECKEL – in jedem Fall sehr viel weniger, als HAECKEL
mit seinem "Biogenetischen Grundgesetz" behauptet hatte.
RICHARDSON et al. (1998) zeigen jedenfalls nicht, wo ihnen der Rekapitulationsgedanke (in welcher
Form auch immer!) bei der Erforschung der Beziehung zwischen
Evolution und Entwicklung von Organismen (EvoDevo) eine Hilfe
ist, oder gar ein "Leitbild" im oben definierten Sinn
darstellt.
7) "Wer sich also dazu entschließt, auf Richardson (1997) hinzuweisen,
der ist im Interesse einer seriösen Abwägung aller
Fakten gehalten, die Wahrheit komplett offenzulegen; er darf
sich nicht einzelne Aspekte herauspicken, die gut zum weltanschaulichen
Hintergrund des Kreationismus zu passen scheinen und den Rest
geflissentlich ignorieren."
Wer auf RICHARDSON et al. (1997) verweist, sollte sich versichern, dass die Literaturangabe zum jeweiligen
Text passend ist und ihren Zweck erfüllt. Und dass LÖNNIGs
Anführung der Arbeit von RICHARDSON et al. dem nicht entspricht, konnte die Kritik der Vertreter der AG Evolutionsbiologie nicht zeigen.Meiner oben begründeten Einschätzung nach haben sie in
LÖNNIG's Text nur Interpretationen hineingelegt, die die Angabe weiterer Literatur zu dem Thema nötig machen würden.
Was die Ausführungen der AG Evolutionsbiologie betrifft, stellt sich umgekehrt die Frage, ob sie ihren eigenen Forderungen
gerecht wird ("Aspekte herauspicken" usw.). So ist
meiner Meinung nach der unter 6) von mir zitierte Beitrag von
RICHARDSON (1998) durchaus für die hier diskutierten Fragen
relevant und auch nicht schwer auffindbar. Relevant wäre
ebenfalls die Information, dass der Evolutionskritiker, der
im von der AG Evolutionsbiologie zitierten Beitrag von RICHARDSON et al. (1998) in Bezug auf die Fernsehdebatte erwähnt wird, etwas später
die Gelegenheit bekam, in Science in Form eines Leserbriefs noch einige Anmerkungen zu den Ausführungen
von RICHARDSON et al. (1998) zu machen. Dieser Evolutionskritiker
war M. J. BEHE (1998: "As the debate participant who discussed
Haeckel, I believe their objections are unwarranted. ...")
und der Leser kann seine Anmerkungen zusammen mit einigen Gedanken
von Klaus SANDER und Roland BENDER dort nachlesen5.
8) "Auch hier ist der Leser also von Lönnig fehlinformiert worden!"
Der Fettdruck dieses Satzes erzeugt einen interessanten Effekt – wegen der vorhergehenden mangelnden Beweisführung ist er allerdings
irreführend. Nachdem die Kritiker der AG Evolutionsbiologie LÖNNIGs kurzen Text (der aus einigen Literaturangaben besteht s.o.) in
einer Weise (fehl-)interpretiert haben, die ihnen die effektvolle Widerlegung ermöglicht, setzen sie als "Sahnehäubchen" noch
die Behauptung einer "Fehlinformation" in die Welt – wobei
es maximal möglich wäre LÖNNIG vorzuwerfen,
dass er gewisse Literatur in seinem Aufsatz nicht angeführt
hat. Und dass auch dieser Vorwurf keine echte Substanz hätte,
habe ich bereits gezeigt.
9) "Selbst Kritiker der Biogenetischen Grundregel, die ihren Wert in der Phylogeneseforschung
als marginal einstufen, wie z.B. Peters, räumen ein, "daß die
Einstufung eines bestimmten Ontogenesestadiums als Rekapitulation überhaupt
nur in Verbindung mit einer phylogenetischen Erklärung
einen Sinn erhält" (Peters 1980, S. 67)"
Was dieser Satz im Zusammenhang mit einer Kritik an LÖNNIG's Arbeit über
Mendel in Bezug auf HAECKEL noch zu tun hat, kann man nur raten.
Was das Zitat von PETERS (1980) überhaupt in diesem Kontext
bedeuten soll, ist jedoch noch viel unklarer. PETERS sagt hier
lediglich, dass man Rekapitulationen nur bei Vorgabe bereits existierender Vorstellungen zum Verlauf der Stammesgeschichte erkennen kann. Rekapitulationen sind somit kein Sachverhalt, der unabhängig
von einem evolutionstheoretischen Kontext für Evolution
sprechen würde, sondern eine Interpretation, die in Bezug auf manche Sachverhalte der ontogenetischen Entwicklung innerhalb des Paradigmas "Evolution" getätigt werden kann. Diesen Gedanken
bringt er einige Sätze vorher etwas detaillierter:
"Wenn aber die Rekapitulation so relativ gesehen werden muß, nutzt
das Biogenetische Grundgesetz dem Phylogenetiker gar nichts.
Indem es vorgibt, eine Hilfe bei der Lesrichtungsentscheidung
zu sein, behindert es die Phylogenetik sogar in hohem Maße,
denn es täuscht Lösungen vor, die keine sind. Wenn
wir einige "Falten" im Kopf-Hals-Bereich des menschlichen
Embryos mit den Kiemenbögen der Fische in eine Beziehung
bringen, und zwar ganz anders als Johannes Müller in den
oben zitierten Sätzen, so tun wir das nicht wegen des
Biogenetischen Grundgesetzes, sondern weil die Vermutung einer
solchen Beziehung sehr gut in den evolutionstheoretischen Erklärungskontext
paßt, den wir uns ohnehin gebildet haben. Aus dem gleichen
Grund nehmen wir nicht an, bestimmte Vorfahren des Menschen
hätten im Adultstadium einen Dottersack besessen, obwohl
doch dieser Sack mindestens so gut wie die Kiemenbögen
an einem Embryo zu beobachten ist. Es ist nämlich das
phylogenetische Modell, das den Maßstab für die
Interpretation und Lesrichtung organischer Abwandlungen liefert
... . Für das Biogenetische Grundgesetz wie auch für
alle ähnlichen Vorschriften ergibt sich daraus nur eine
Konsequenz: Man sollte es vergessen. Das klingt radikal, aber
es ist die einzige Maßnahme, die verhindert, daß auch
in Zukunft Phylogenetik mit falschen oder doch belanglosen Argumenten betrieben wird. (S.67)
Anders als die Vertreter der AG Evolutionsbiologie nahelegen, relativiert PETERS seine Kritik an der "Biogenetischen Grundregel" nicht mit dem
Verweis darauf, dass die Einstufung von Ontogenesestadien als
Rekapitulationen von einem phylogenetischen Hintergrund abhängt – er begründet sie im Gegenteil damit: Er sagt hier eben nicht, dass das "Biogenetische Grundgesetz" auch nur minimal brauchbar
ist, sondern dass es vergessen werden kann. Das Zitat, welches
uns präsentiert wird, befindet sich in einem Zusammenhang,
der den Wert von HAECKELs "Regel, auch wenn diese als "Grundgesetz" bezeichnet wird" bestreitet:
"Selbstverständlich, und das ist zu betonen, wird der Phylogenetiker
auch fürderhin die Embryologie sehr wohl beachten müssen.
Aber er wird sie wie alle anderen Strukturen unter dem Blickwinkel
der Anpassungsbegründung analysieren und bewerten. Dabei
wird sich zeigen, daß rekonstruierte Verwandtschaftsverhältnisse
manchmal mit ontogenetischen Rekapitulationen einhergehen und
manchmal nicht, so wie man es nach der Evolutionstheorie auch
erwarten muß und wie dies Fritz Müller bereits 1864
feststellte. Wir sahen ja, daß die Einstufung eines bestimmten
Ontogenesestadiums als Rekapitulation überhaupt nur in
Verbindung mit einer phylogenetischen Erklärung einen
Sinn erhält. Der Phylogenetiker weiß also, daß es
in der Ontogenese Rekapitulationen geben muß, aber um
sie zu erkennen, stützt er sich auf evolutionsbiologische
Einsichten und nicht auf die rein formalistische Anwendung
einer Regel, auch wenn diese als "Grundgesetz" bezeichnet
wird. Haeckels großes und bleibendes Verdienst ist es,
die schon von Darwin und Fritz Müller vorgezeichnete Verbindung
zwischen Phylogenese und Ontogenese noch deutlicher gemacht
zu haben; sein Biogenetisches Grundgesetz hat in diesem Rahmen
auch einen beachtlichen heuristischen Wert gehabt. Die Leistung
Haeckels wird aber nicht geschmälert, wenn man das Biogenetische
Grundgesetz nunmehr im historischen Archiv zu den Akten legt." (S.67)
PETERS bestreitet also nicht die Möglichkeit, manche embryonale Bildungen
als "Rekapitulationen" zu werten, aber er betont,
dass dies eine Interpretation ist, die vor dem Hintergrund
vorausgesetzter phylogenetischer Vorstellungen getätigt
wird. Und er bestreitet in diesem Zusammenhang die Existenz
von Regeln, die zur Erkennung von Rekapitulationen führen.
Das Resultat: "Dabei wird sich zeigen, daß rekonstruierte Verwandtschaftsverhältnisse
manchmal mit ontogenetischen Rekapitulationen einhergehen und
manchmal nicht..." Anders gesagt, wird man sich darauf beschränken, diesen und jenen Sachverhalt
als Rekapitulation zu interpretieren, ganz nach den jeweiligen übergeordneten Vorstellungen zur Stammesgeschichte.
In der offiziell vom Vorstand der AG Evolutionsbiologie abgesegneten Kritik anLÖNNIG wird diesem im Kapitel "Ernst Haeckel und das Leitbild der ontogenetischen Rekapitulation" "Unterschlagung" und "Fehlinformation" vorgeworfen. Es bleibt
dem Leser überlassen zu beurteilen, wie die Zitierweise
der Ausführungen PETERS durch die AG Evolutionsbiologie im Lichte ihrer eigenen Kritik wirkt.
10) "Denn es ist doch für jeden, der ein gewisses Maß an rationaler Überlegung
zuläßt, einzusehen, daß die weitreichenden Ähnlichkeiten
zwischen bestimmten Embryonalstadien und Adultmerkmalen nicht
zufällig existieren können, daß also aufgrund
der augenfälligen Parallelen zwischen Embryologie, vergleichender
Morphologie und Paläontologie ein kausaler Zusammenhang
zwischen den Strukturen bestehen muß, der im epigenetischen
System und dessen Geschichte zu suchen ist."
"Denn"? Inwiefern folgt das aus dem vorhergehenden Zitat von PETERS, welches auf die Theorieabhängigkeit der Deutung embryonaler Strukturen
als Rekapitulationen hinweist?
Merkwürdig ist auch, dass im Satz vorher noch von der "Biogenetischen
Grundregel" gesprochen wurde. Nun wird plötzlich
vage auf das epigenetische System und seine Historie hingewiesen.
Dies ist jedoch ein wesentlich allgemeinerer Ansatz als die "Biogenetische
Grundregel" – es läuft hier auf einenunspezialisierteren
Ansatz der evolutionären Ähnlichkeitsinterpretation
hinaus, nicht um in irgendeiner Form regelhafte schnelle Rekapitulationen
der Stammesgeschichte in der Ontogenese.
Dem Absatz ist aber in einem gewissen Sinne zuzustimmen – all dieÄhnlichkeiten
können kein Zufall sein. Und wie ja auch die Arbeit von
PETERS im Hinblick auf die Embryologie erwähnt, gab es
einmal eine Zeit, in der man diese Ähnlichkeiten nicht
in einem evolutionstheoretischen Kontext interpretierte, sondern
in andere Modelle einordnete – schon damals wurde ein "gewisses
Maß an rationaler Überlegung" zugelassen und
nicht an Zufälligkeiten geglaubt. Im Übrigen sollte
sich der Leser keine Vorschriften darüber machen lassen,
wo er die "kausalen Zusammenhänge" zu suchen
hat, bzw. wie diese auszusehen haben. Dasso genannte "gewisse
Maß an rationaler Überlegung" kann auch über
evolutionäre Ansätze hinaus führen – anders
als anscheinend in obigem Satz impliziert wird.
Anschließend folgt eine längere Passage, die eine weitreichende Kritikevolutionärer Ähnlichkeitsargumentation
nötig machen würde. Das ist nicht der Sinn dieser
Abhandlung und man fragt sich auch zusehends, inwiefern das
alles überhaupt noch LÖNNIG bzw. seine Anmerkungen
zu HAECKEL berührt. Am Ende der Passage wird behauptet:
11) "Denn auf derlei Fragenkomplexe hat der Kreationismus keine einzige differenzierte – geschweige
denn plausible – Antwort parat. Die einzige Antwort, die halbwegs
als Erklärung gelten könnte, lautet, daß es
dem Schöpfer in seinem weisen Ratschluß eben so und nicht anders gefallen habe!"
Es drängt sich die Frage auf, warum hier nicht auf die umfangreiche Literatur
verwiesen wird, die sich kritisch und gründlich mit exakt6 den Argumenten befasst, die eben von Seiten der AG Evolutionsbiologie vorgebracht wurden (siehe z.B. REMINE 1993, JUNKER 2002, HUNTER 2004). Das wäre in diesem Kontext durchaus
angebracht. So aber fällt die Kritik, die oben an LÖNNIG
bezüglich der Angabe von Quellen versucht wurde, auf die
Kritiker zurück. Dass die schöpfungstheoretische
Position in diesem Punkt viel mehr kann als einen Verweis auf
undurchdringliche Ratschlüsse eines Schöpfers zu
geben, wird sofort klar, wenn sich der Leser mit den angegebenen
Publikationen befasst. Der Leser sollte sich ebenfalls nicht
von den Wertungen mangelnder Differenziertheit und fehlender
Plausibilität beeinflussen lassen.
12) "Damit aber wird die Erklärung nur wieder in ein Mysterium hinein
verschoben, um einem Erklärungsnotstand zu entkommen."
Wenn es so gemacht würde, dann wäre es so. Das ist aber meiner Einschätzung nach nicht der Fall. Im Gegenteil haben Schöpfungstheoretiker hier eine
starke Motivation, die Organismenwelt aus der Perspektive
eines Schöpfers heraus verstehen zu wollen. Die Frage "Warum
könnte ein Schöpfer das so gemacht haben?" ist
heuristisch wertvoll. Sogar Biologen, die nicht schöpfungstheoretisch
motiviert sind, bedienen sich ihrer mit großem Erfolg,
in dem Sinne, als sie mit einer teleologischen Betrachtungsweise
an Organismen herangehen und diese so untersuchen, als wären
sie geschaffen (vgl. z. B. RUSE 2003, S. 268 und für
aktuelle und anschauliche Fallbeispiele EL-SAMAD et al. 2005 sowie WELLS 2005).
Evolutionstheoretiker sind in Bezug auf diese teleologische Denkweise in der
Biologie nicht so konsequent – verständlich, wenn man
bedenkt, dass für sie Teleologie nur eine Illusion (oft
Teleonomie genannt) ist. Daher sind sie auch bereit, die Suche
nach einer funktionellen Erklärung bestimmter Phänomene
schneller aufzugeben, besonders wenn das Fehlen einer solchen
sich mit aktuellen Evolutionsvorstellungen zusammenfügt.
Zwar schließt die phylogenetische Interpretation einer
Struktur (als homolog gewertete Ähnlichkeiten, Rekapitulationen
und Rudimente sind Spezialfälle davon) nicht aus, dass
sie auch im aktuellen Zustand eine Funktion ausübt. Man
kann sogar argumentieren, dass die Konserviertheit von X darauf
hinweist, dass es in irgendeiner Form noch eine Funktion ausüben
muss. Trotzdem geht hier der Versuch einer historischen Erklärung
dem Versuch eines funktionellen Verständnisses vor.
13) "Angesichts dessen sei nur noch einmal an das naive Glaubensbekenntnis
erinnert, wonach die Phänomene "mit der Intelligent-Design-Theorie
jetzt erst intellektuell zureichend und sogar völlig befriedigend
erklärt" würden."
A) "Angesichts dessen"? - in dieser Passage werden Dinge gegenübergestellt
die sich nicht vergleichen lassen. Die ID-Theorie sucht im "Muster
des Lebens" nach Hinweisen auf Planung, sie erklärt
nicht, wie es dazu kam (sie eröffnet jedoch andere Perspektiven
in Bezug auf letzteren Punkt).
B) Hängt mit A) zusammen: In den vorherigen Absätzen wurden Einwände
gegen bestimmte Vorstellungen von Schöpfung gebracht,
bzw. den Kreationismus – was hat das mit der ID-Theorie zu tun?
C) Hängt mit A) und B) zusammen: LÖNNIG sagt die von den Vertretern
der AG Evolutionsbiologie beanstandeten Aussagen in folgendem Kontext:
"...zahlreiche Phänomene, die von der Synthetischen Evolutionstheorie
nur unzureichend oder überhaupt nicht erklärt werden
können, werden mit der Intelligent-Design-Theorie jetzt
erst intellektuell zureichend und sogar völlig befriedigend
erklärt."
Er stellt die ID-Theorie der Synthetischen Theorie gegenüber – korrekt,
denn beide Konzepte sind im Bereich der Mechanismenfrage anzusiedeln. Bei der Debatte um ID geht es letztlich um die Frage, ob der auch
von Evolutionisten oft eingeräumte "Anschein von
Planung" in der Organismenwelt durch ungelenkte Prozesse
als Illusion entlarvt wurde oder nicht. AYALA (2004) hat die
Situation so beschrieben:
"Darwin's theory encountered opposition in some religious circles, not
so much because he proposed the evolutionary origin of living
things (which had been proposed before, and had been accepted
even by Christian theologians), but because the causal mechanism – natural
selection – excluded God as the explanation for the obvious
design of organisms." (S. 58)
Der ID-Vertreter BEHE (2004) schreibt dazu:
"First of all, it is important to understand that a hypothesis of Intelligent
Design has no quarrel with evolution per se - that is, evolution
understood simply as descent with modification, but leaving
the mechanism open. After all, a designer may have chosen to
work that way. Rather than common descent, the focus of ID
is on the mechanism of evolution - how did all this happen,
by natural selection or by purposeful Intelligent Design?" (S. 356)
Wenn es um Design geht, ist demnach die Mechanismenfrage der Brennpunkt – die Frage nach gemeinsamer Abstammung und/oder dem Schöpfungsmodus
ist lediglich nachgelagert. Die Passage im Text der AG Evolutionsbiologie hätte nur Sinn, wenn die ID-Theorie und Kreationismus bzw. Schöpfungslehren
dasselbe wären.
14) "Wer an dieser Stelle immer noch kühn und voll der apodiktischen Überzeugung
behauptet, daß der Kerngedanke der ontogenetischen Rekapitulation
nicht haltbar, widerlegt und dessen empirische Grundlage von
Haeckel gefälscht worden sei, der repetiert nur weltanschauliche
Parolen, die weder mit der biologischen Realität noch
mit einer wohlbegründeten wissenschaftstheoretischen Position
etwas zu tun haben, weswegen sie sich von der Auffassung der
Fachwelt (von Ausnahmen abgesehen) völlig unterscheiden."
Wer mir an dieser Stelle zeigen kann, wo LÖNNIG dies alles in dem von den
Vertretern der AG Evolutionsbiologie in diesem Zusammenhang beanstandeten Artikel geäußert hat, der möge
dies bitte tun. Ich habe zudem seine Website durchsucht und
solche Aussagen nicht gefunden.
Zum restlichen Teil des Kapitels und der Frage nach dem "Leitbild"
Ich beende hier die absatzweise Besprechung, da die Kritik an LÖNNIG sich
nun völlig im weiteren Text verliert. Vielmehr soll noch
der unter 1) bereits aufgeworfene Punkt aufgegriffen werden – die
Frage nach dem "Leitbild der ontogenetischen Rekapitulation".
Was bereits von PETERS (1980) gesagt und weiter oben zitiert wurde, widerspricht
dem Konzept eines "Leitbildes" diametral: Rekapitulationen
sind demgemäß kein Leitbild, sondern Interpretationen im Rahmen phylogenetischer Ansätze.
Der kausaltheoretische Ansatz "EvoDevo" hat mit HAECKELs Rekapitulationstheorie
in formaler Hinsicht vielleicht insofern zu tun, als auch
hier Vorgänge in der Ontogenese mit einem evolutionären
Ansatz gekoppelt werden: Die Plastizität ontogenetischer Prozesse soll die Basis für makroevolutive Prozesse bilden, Änderungen
während der individuellen Entwicklung sollen zur Entstehung
völlig neuer Organismentypen beisteuern. Rekapitulation
hingegen basiert auf der Konserviertheit ontogenetischer Prozesse. Das wird besonders klar, wenn man sich das Paradebeispiel
für Rekapitulation ansieht. Die so genannte "phylotypische
Phase", die alle Wirbeltiere durchlaufen sollen und die ein gemeinsames stammesgeschichtliches Erbe anzeigen soll, wird
hier mit ihren bekannten "Kiemenfurchen", "Flossen" und
dem "Schwanz" oft als Evidenz für Rekapitulation
popularisiert (z.B. KUTSCHERA 2001). Von EvoDevo-Vertretern
kam starke Kritik an der Existenz einer solchen Phase (RICHARDSON et al. 1997, BININDA-EMONDS et al. 2003) und ein Grund für diese Kritik mag auch ein Punkt sein, den RICHARDSON et al. (1997) gebracht haben, nachdem sie auf die Möglichkeiten evolutionärer
Veränderung während der Embryonalentwicklung hingewiesen
haben:
"These modifications of embryonic development are difficult to reconcile
with the idea that most or all vertebrate clades pass through
an embryonic stage that is highly resistant to evolutionary
change. This idea is implicit in Haeckel's drawings, which
have been used to substantiate two quite distinct claims. First,
that differences between species typically become more apparent
at late stages. Second, that vertebrate embryos are virtually
identical at earlier stages. This first claim is clearly true.
Our survey, however, does not support the second claim, and
instead reveals considerable variability – and evolutionary
lability – of the tailbud stage, the purported phylotypic stage
of vertebrates. We suggest that not all developmental mechanisms
are highly constrained by conserved developmental mechanisms
such as the zootype. Embryonic stages may be key targets for
macroevolutionary change." (S.105, vergl. auch die Erläuterungen
in HANKEN&RICHARDSON 1998 zur Bedeutung der 97'er Arbeit.)
RICHARDSON et al. (1998b) haben diesen Gedanken – Konserviertheit vs. Modifikation - etwas später
hervorgehoben. Sie schreiben in einem Kommentar:
"We regard the phylotypic stage as an archetype and not a real entity.
Like Owen's archetype, the vertebrate phylotype applies to
all vertebrates in general, but to no one species in detail.
Other authors have equated the phylotypic stage with the ancestral
condition. We do not support this view because, although primitive
patterns of morphogenesis and gene expression are inherited from common ancestors 3, these patterns can be modified during evolution." (S. 158)
Die EvoDevo-Forscherin WEST-EBERHARD (2003) macht in Verbindung mit Neotenie
bei Salamandern eine ähnliche Bemerkung:
"Salamanders are the grand old taxon of developmental evolutionary biology.
Their sensational debut took place in Paris in the mid 1800s,
when an unmetamorphosed captive larva of the Mexican axolotl
(Ambystoma mexicana) reproduced in a museum ... . This was
especially surprising because aquatic amphibian larvae (e.g.,
tadpoles) are morphologically and physiologically so different
from the terrestrial adults. The axolotl helped to defeat the
doctrine of recapitulation and the biogenetic law ... , the
idea that ontogeny is a condensed synopsis of phylogeny ...
, for it demonstrated that major changes could occur due to
the reorganization of ontogeny, rather than by terminal addition
as required by the idea that ontogeny recapitulates phylogeny.
Subsequent research on salamanders has included detailed study
of their natural history, endocrinology, and phylogeny, so
they continue to be a model taxon for studies of development
and evolution." (S.607)
EvoDevo-Forscher Wallace ARTHUR (2004) ist skeptisch, was Vorwürfe gegen
Ernst HAECKEL in Richtung Fälschung betrifft. Das ändert
aber nichts daran, dass Rekapitulationen für ihn anscheinend
mehr unter "ferner liefen" denn unter der Rubrik "Leitbild" eingeordnet
werden dürften. Oder wie er schreibt:
"Of course, Haeckel was quite wrong to try to turn a pattern into a 'law'.
Statistically, evolution seems to modify later developmental
stages more often than it modifies early ones. And, where it
adds bits to the developmental programme, it may, again statistically,
add these more often near the end than near the beginning for
perfectly sensible selective reasons. But statistics is just
that. It deals with probabilities, not the certainties that
are normally associated with scientific 'laws' (such as E =
mc2). Evolution goes in many directions. Sometimes a lineage gradually moves towards
greater organismic complexity. In such cases, we would expect
to see elements of recapitulation, albeit imperfect and accompanied
by other types of change. But when a lineage goes in the opposite
direction, as is often the case with parasites, recapitulation
would hardly be expected, as development is more likely to
experience subtractions than additions." (S. 18)
Es ist ein Unterschied, ob man unter gewissen Voraussetzungen in einem evolutionstheoretischen Rahmen Elemente von Rekapitulation erblickt oder Rekapitulationen als Leitbild nützt.
Es ist klar, dass auf Basis dieses Mechanismenverständnisses – EvoDevo – zwar
die Existenz von Rekapitulationen nicht ausgeschlossen ist,
nur wo diese eine wichtige Rolle für das Verständnis
ontogenetischer Prozesse spielen, geschweige denn ein Leitbild darstellen sollen, bleibt unklar. Daran ändert auch die von der AG Evolutionsbiologie zitierte Passage von SANDER nichts. Denn wie dieser laut deren Zitat schreibt,
knüpfe mit "EvoDevo" heute ein ganzer Biologiezweig
am "Leitbild der ontogenetischen Rekapitulation an" -
bewusst oder unbewusst. Etwas, woran man auch unbewusst anknüpfen kann, dürfte wohl schwerlich die Rolle eines Leitbildes übernehmen. Wenn man freilich die "historische Bedingtheit des Geschehens in der Ontogenese" als Kerngedanken heraushebt, hat man etwas so allgemeines formuliert,
das zumindest in einem evolutionstheoretischen Kontext nie
falsch sein kann. Eine nicht näher präzisierte "historische
Bedingtheit" sagt aber nichts darüber aus, ob Rekapitulationen
ein Leitbild sind, oder inwiefern darauf bezogene Gesetze bzw.
Regeln Relevanz besitzen – gerade darum geht es jedoch. Es
ist jedoch nicht nur so, dass die Bedeutung von Rekapitulationen
in Bezug auf evolutionäre Zusammenhänge nicht klar
scheint (Sind sie jetzt "Leitbilder" oder Interpretationen
innerhalb eines größeren phylogenetischen Kontextes?).
Wenn es darum geht, Aufbau und Funktion von Lebewesen zu erforschen,
sind spekulative phylogenetische Konzepte ebenfalls nichts,
was dem Forscher als "Leitbild" dienen würde – zumindest
ist mir das noch nie aufgefallen, wenn ich derartige Publikationen
gelesen habe. Mir ist jedoch aufgefallen – und hier komme ich
auf die Schlussbemerkungen von 12) zurück –, dass sich
wiederholt evolutionärhistorische Interpretationen in
Bezug auf Strukturen von Organismen (bzw. deren funktionellen
Status) als nicht zwingend oder gar irreführend erwiesen
haben. Wenn z. B. SCADDING (1981) zeigt, wie die Liste angeblich
rudimentärer Organe im menschlichen Körper schrumpft,
sollte man sich einmal fragen, wo hier evolutionär-historische
Hintergründe das "Leitbild" oder auch nur die Motivation für die Entdeckung all der komplexen Funktionszusammenhänge geliefert
haben. Und was solche Hintergründe in Gestalt des Rekapitulationsgedankens
für die Embryologie bedeuten, kann ebenfalls kaum mit
einer Leitfunktion in Zusammenhang gebracht werden, wenn man
bedenktdass die renommierten Embryologen Ronan O'RAHILLY und
Fabiola MÜLLER den Begriff "Rekapitulation" in
ihrem Lehrbuch "Embryologie und Teratologie des Menschen" (1999) nur mehr in Anführungszeichen gebrauchen und die Terminologie
ihres Fachgebietes von damit verbundenen Ausdrücken befreien.
Aus den Ausführungen der Vertreter der AG Evolutionsbiologie im Kapitel "Ernst
Haeckel und das Leitbild der ontogenetischen Rekapitulation" geht
somit meiner Einschätzung nach nicht hervor, wo das Leitbild
liegt. Anstatt eines Leitbildes scheint mit dem Konzept so
genannter "Rekapitulationen" ein
Faktor (genauer: eine spezielle Form homolog gewerteter Ähnlichkeiten7) von vielen, im Rahmen übergeordneter phylogenetischer Betrachtungen
vorzuliegen. In Bezug auf EvoDevo stellen Rekapitulationen
in ihrer Konserviertheit etwas dar, womit dieses Gebiet mit
seiner Betonung auf die Modifikation ontogenetischer Prozesse
wenig zu tun hat und in Bezug auf die Embryologie etwas,
das man auch unter Anführungszeichen
setzen kann.
Schlüsse
Soweit es die Sache betrifft – also Ernst HAECKEL und die Rekapitulationstheorie – ,
lassen sich meine Schlüsse so summieren: Ob man Ernst
HAECKEL der Fälschung bezichtigen will, oder "sanftere" Formulierungen
für sein unvorbildliches Verhalten in Bezug auf einige
seiner Embryonendarstellungen verwenden möchte, ist Geschmackssache.
Ich persönlich bin übrigens der Meinung, dass "Fälschung" noch
zu den mildesten Ausdrücken gehören würde, wenn
Evolutionskritiker Praktiken wie HAECKEL anwenden würden.
Dass es ohnehin kein Unding ist, HAECKEL in Zusammenhang mit
Fälschung zu erwähnen, zeigt etwa das obige Zitat
von RICHARDSON (1998). Wie üblich kommt es auch hier auf
den Kontext dieses Ausdrucks an – ist es eine sachliche Betrachtung oder z. B. eine Kampfansage
gegen HAECKEL? Geht es um Showeffekte oder Inhalte? Was Rekapitulationen und damit verbundene Regeln/"Gesetze" betrifft,
so dürfte davon der "Kern" nur mehr primär
im Sinne einer allgemeinen Zusammenführung ontogenetischer
Prozesse mit evolutionären Konzepten stehen. Was bleibt,
sind die einen oder anderen Fälle, die im Rahmen phylogenetischer
Konzepte bei heutigem Wissensstand als Rekapitulation gedeutet
werden und somit als Spezialfallhomologer Ähnlichkeit.
(Gefragt sind natürlich alternative Interpretationen für
solche Fälle, aber das ist nicht Thema dieser Arbeit.)
Wie der Leser bereits gemerkt hat und in den einleitenden Worten
auch klar gemacht wurde, ging es hier weniger um HAECKEL und
Rekapitulationen, sondern mehr um das, was im Untertitel der
LÖNNIG-Kritik der AG Evolutionsbiologie ausgedrückt wird. Dieser lautet "Über die fragwürdigen Diskursmethoden eines Evolutionsgegners" – somit sicher eine passende Gelegenheit, sich einmal exemplarisch mit der Technik
der AG Evolutionsbiologie im Umgang mit Evolutionskritikern zu befassen. Denn "fragwürdige Diskursmethoden" – etwa Unterstellungen, konstruierte Vorwürfe, problematische Handhabung
von Zitaten, völlig überzogene Folgerungen, etc. – muss
man ja nicht nur bei Evolutionsgegnern suchen. Was war das
Resultat dieser Suche – wie "schmeckt" die Kunst
der Kritik nach dem Rezept der AG Evolutionsbiologie? Ich denke, jeder Leser kann das für sich beantworten.
Fußnoten:
1 http://www.evolutionsbiologen.de/max-planck.pdf
(Version vom 12. 4. 2005).
2 Siehe meinen
Aufsatz unter der Adresse http://members.aon.at/evolution/RekIcon.htm
3 http://www.weloennig.de/mendel.htm
4 http://www.weloennig.de/Antwort_an_Kritiker.html
5 Soweit ich das gesehen habe,
verlief die Debatte in Science so: PENNISI (1997, September) > HANKEN &RICHARDSON
(1998, Februar) > RICHARDSON et al. (1998, Mai) > BEHE,
SANDER, BENDER (1998, Juli) > RICHARDSON (1998, August)
6 Besonders,
wenn man JUNKER (2002) ab S.149 liest.
7 Mit den daran geknüpften klassischen Problemen, wie
ich anmerken möchte. So schreibt Thomas JUNKER (in
JAHN 2004, S.356-385) nachdem er Beispiele für Rekapitulationen
erwähnt hat: "Diese Merkmale werden in der Evolutionstheorie
als historische Relikte erklärt, wobei sich der konkrete
Nachweis schwierig gestalten kann, da die evolutionistische
Morphologie die Ähnlichkeit von Merkmalen sowohl durch
Vererbung (Homologien) als auch durch Anpassung (Analogien)
erklärt. (...) Inwieweit es sich bei Ähnlichkeiten
in der Embryonalentwicklung tatsächlich um Relikte
der Stammesgeschichte, also Homologien, handelt oder ob
diese Ähnlichkeiten nur Parallelentwicklungen bzw.
Anpassungen an das embryonale Leben darstellen, ist nur
am einzelnen Fall zu entscheiden." (S. 373/374) |
Literatur
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Ayala, Francisco 2004: Design without Designer. Darwin's Greatest Discovery S.55-80 IN: Dembski, William A. & Ruse, Michael (Hrsg.) 2004: Debating Design. From Darwin to DNA Cambridge University Press
Behe, M.J., Sander, K., Bender, R. 1998: Embryology and Evolution. Science 281: 347-351
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Junker, Reinhard 2002: Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen. Design-Fehler oder Design-Signale? Hänssler
Kutschera, Ulrich 2001: Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung. Parey Buchverlag Berlin
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West-Eberhard, Mary Jane 2003: Developmental Plasticity and Evolution. Oxford University Press
Ich glaube, dass mit dem vorliegenden Dokument (insbesondere auch mit dem Beitrag
von M. Rammerstorfer) jeder ehrliche Leser zur Genüge
erkennen kann, mit welchen zweifelhaften Mitteln M. N. und
A. B. sowie T. W. und Kutschera arbeiten.